Angst im Jugendalter:
„Normal“ oder pathologisch?
Für die Angst vor dem Monster unterm Bett haben alle Mamas und Papas ein Geheimrezept. Schwierig wird es erst, wenn die Monster-Angst zu chronischer Schulangst mutiert oder jede vorübergehende Trennung von Mama und Papa heftigen Bauchschmerz auslöst. Oft ist Angst bei Kindern und Jugendlichen die normale Reaktion auf neue und/oder herausfordernde Situationen. In manchen Fällen sind die Ängste aber so extrem, dass ein Blick von außen Klarheit schaffen kann.
Wir schauen uns an, welche Ängste im Kindes- und Jugendalter zur normalen Entwicklung gehören, und woran du erkennen kannst, wenn die Angst über „normal“ hinausgeht und dein Kind Hilfe braucht.
Angst bei Kindern und Jugendlichen.
Die Angst hat bei Kindern und Jugendlichen zwei wichtige Funktionen: Erstens bewahrt sie sie davor, sich in gefährliche oder gar lebensbedrohliche Situationen zu begeben. Zweitens dient sie als Katalysator für die Entwicklung der sog. Selbstwirksamkeit: Aus der Überwindung einer Angst reift in deinem Kind die Überzeugung, dass es sämtliche Herausforderungen im Leben meistern wird.
Als wichtiger Teil der kindlichen Entwicklung setzen Ängste entsprechend früh ein. So beginnt etwa schon der acht Monate alte Säugling das „Fremdeln“, wann immer er mit einer ihm nicht vertrauten Person konfrontiert ist. Sinn und Zweck dieser frühen Angst ist es, in die vertraute Umgebung und die Sicherheit seiner Eltern zurückzukehren.
In diesem Alter korrelieren die Ängste, die dein Kind entwickelt, noch sehr stark mit der jeweiligen Entwicklungsstufe und werden in der Regel durch aktuelle Ereignisse bzw. Veränderungen im direkten Umfeld ausgelöst: Angst vor Fremden, Angst vor lauten Geräuschen oder davor, von Mama und Papa allein gelassen zu werden (Trennungsangst).
Mit der Entwicklung der Reflexionsfähigkeit kommt bei vielen (Klein)kindern die Angst vor dem Tod und vor dem Verlust der Bezugspersonen hinzu. All dies sind Ängste, aus denen dein Kind von selbst „herauswächst“. Aber mit jeder Entwicklungsstufe entwickeln sich natürlich auch neue Arten von Ängsten.
Angst bei Kindern 4 bis 6 Jahre
Je älter dein Kind wird (und desto fantasiebegabter es ist), desto abstrakter werden seine Ängste. Expert*innen sprechen hier auch von der „magischen Phase“, weil plötzlich die böse Hexe aus dem Märchenbuch klettert und das Monster aus dem (doch nicht so) kinderfreundlichen Film sich nachts im Schrank versteckt.
Viele Kinder zwischen vier und sechs Jahren haben Angst vor der Dunkelheit oder stehen um Mitternacht im elterlichen Schlafzimmer, weil die bösen Geister aus dem Gute-Nacht-Buch sie in ihre Träume verfolgt haben. Auch Angst vor Naturgewalten wie Blitz und Donner oder Misstrauen dem gegenüber, was sich unter der Wasseroberfläche verbirgt, sind in dieser Phase typisch. In den meisten Fällen nehmen Ängste dieser Art ab, je näher dein Kind dem Grundschulalter rückt.
Angst bei Kindern 6 bis 12 Jahre
Viele Eltern stellen beunruhigt fest, dass sich mit dem Eintritt in die Schule die Ängste häufen – aber auch das ist vollkommen normal. Immerhin muss dein Kind sich innerhalb sehr kurzer Zeit an eine neue Umgebung und einen neuen Tagesablauf gewöhnen. Plötzlich gibt es Erwartungen, die erfüllt werden wollen, und viele andere Kinder, mit denen es einen Großteil seines Tages verbringen muss.
Typische Ängste, die in diesem Lebensabschnitt auftauchen können, sind zum Beispiel die Angst vor Ausgrenzung oder die Angst vor unbekannten sozialen Situationen. Kinder, die Schwierigkeiten mit dem Lernen haben, entwickeln auch oft Angst vor dem Unterrichtsgeschehen selbst: Sie fürchten sich davor, an die Tafel geholt zu werden, oder ihre Hausaufgaben vorstellen zu müssen.
Mit dem Beginn der Pubertät wandeln sich die Ängste erneut. Steigender Leistungsdruck und der Wunsch, dazuzugehören, schüren Versagensängste und die Furcht vor Ablehnung. Vor allem bei Kindern, die keinen festen Freundeskreis haben oder von ihren Mitschüler*innen sogar gemobbt werden, können die Ängste schnell überhandnehmen. Manche Kinder fangen an, die Schule zu schwänzen, andere entwickeln vielleicht Aggressionen gegen sich selbst oder andere.
Obwohl auffälliges Verhalten oft der Versuch ist, wieder Kontrolle über eine aus den Fugen geratene Welt zu erlangen, solltest du nicht zögern, Hilfe für dich und/oder für dein Kind in Anspruch zu nehmen.
Sind Ängste in der Pubertät normal?
Die Ängste, die dein Kind nicht beizeiten überwindet, begleiten es in seine Teenager- und Jugendzeit. Während der Pubertät können sie sich dann zum echten Problem entwickeln, denn Jugendliche, die schon seit ihrer Kindheit angstbelastet sind, tun sich mit den zusätzlichen Anforderungen dieser aufwühlenden Zeit besonders schwer:
Soziale Situationen wirken zunehmend bedrohlich und Sexualität wird nicht als aufregend, sondern als gefährlich und/oder belastend empfunden. Der Druck, so zu sein wie alle anderen, resultiert bei vielen Jugendlichen in Rückzug und Resignation. Andere schaden in dem Wunsch, dazuzugehören, sich selbst.
Zukunftsangst und Weltuntergangsstimmung
Zwar können schon Kinder im Grundschulalter extreme Ängste entwickeln, doch mit dem Beginn der Pubertät werden diese Ängste zunehmend existenziell. Selbst Jugendliche, die in ihrem Leben keinerlei Traumata erfahren haben und von Katastrophen wie Krieg oder Hungersnöten verschont geblieben sind, entwickeln oft eine starke Angst vor dem Tod bzw. vor der physischen Vernichtung.
Was viele Eltern als überdramatisch abtun, zeugt in Wirklichkeit von den Kämpfen, die die Jugendlichen im Inneren austragen: Während der Pubertät herrscht im Gehirn der Heranwachsenden im wahrsten Sinne des Wortes Katastrophenalarm (mehr Informationen zum Thema findest du in meinem Artikel Gehirn im Umbau). Alles verändert sich, die Gefühle sind außer Rand und Band und die Launen wechseln so rasant, dass dem Nachwuchs das Schleudertrauma droht.
Die Vernichtungsängste sind besonders dort gefährlich, wo sie eine reale Grundlage haben: Viele Teenager und Jugendliche fragen sich, ob sie angesichts von Naturkatastrophen, Erderwärmung und Wirtschaftskrise überhaupt noch eine Zukunft haben. Hier ist es besonders wichtig, den Teenager innerhalb der Familie aufzufangen und die Ängste nicht als „Phase“ abzutun: Aus manchen Ängsten, die sich in der Pubertät entwickeln, kann dein Kind nicht aus eigener Kraft herauswachsen.
Wann wird die Angst zum Problem?
Für viele Eltern ist der Umgang mit Angst bei Kindern und Jugendlichen ein Drahtseilakt: Schenkt man den Ängsten zu viel Aufmerksamkeit, „füttert“ und verstärkt man sie möglicherweise. Versäumt man es hingegen, im richtigen Moment Hilfestellung zu leisten, riskiert man, dass normale, entwicklungsbedingte Ängste pathologisch werden.
In den meisten Fällen ist dieser Übergang schleichend: Aus dem unauffälligen, aber still vor sich hin leidenden Kind wird ab einem gewissen Alter plötzlich ein unnahbarer Einzelgänger, der die ganze Welt als Feind empfindet.
Damit das nicht passiert, solltest du die Ängste deines Kindes sehr ernst nehmen und aufmerksam beobachten, wie sie sich entwickeln. Es kann angezeigt sein, dir Hilfe zu suchen, wenn die Ängste
- extrem sind und dein Kind stark einschränken (zum Beispiel, weil es sich nicht mehr in die Schule traut).
- sich über einen längeren Zeitraum intensivieren.
- über mehrere Monate lang (bei gleichbleibender Intensität) anhalten.
- mit körperlichen Symptomen wie chronischen Bauchschmerzen oder Übelkeit einhergehen.
Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen
Bevor wir über Angststörungen im Kindes- bzw. Jugendalter sprechen möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass Coaching und Beratung präventiven Charakter hat: Indem wir das thematisieren, was dein Kind dir vielleicht nicht erzählt, können wir in vielen Fällen verhindern, dass die Ängste eskalieren. Leidet dein Kind aber bereits an einer Angststörung, solltest du dich um therapeutische Hilfe bemühen. Hierfür kannst du dich zum Beispiel an den psychologischen Dienst der Stadt Wien wenden oder unter Psyonline.at gut bewertete Psycholog*innen in deiner Nähe suchen.
Laut einer Studie der UNICEF leben in Österreich derzeit gut 18 Prozent der Zehn- bis Neunzehnjährigen mit einer psychischen Erkrankung. 2022 hat man in einem 3-Länder-Vergleich (Ö, D, CH) zur psychischen Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen unter Berücksichtigung der Veränderungen durch die COVID-19-Pandemie herausgefunden, dass die Angststörung mittlerweile zu den häufigsten psychischen Störungen (31 Prozent der Diagnosen) zählt, dicht gefolgt von Störungen des Sozialverhaltens (Quelle).
Pathologische Angst bei Kindern und Jugendlichen ist also nicht so selten, wie wir gerne glauben möchten.
Die Diagnose, die in diesem Zusammenhang am häufigsten gestellt wird, ist die sogenannte generalisierte Angststörung. Diese wird in der Regel erst dann diagnostiziert, wenn die charakteristischen Symptome über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten andauern.
Symptome einer generalisierten Angststörung
Wie der Name bereits verrät, beschreibt die generalisierte Angststörung keine spezifische Angst wie die Furcht vor Spinnen oder Angst vor Prüfungen. Es handelt sich vielmehr um eine übermäßige, ständige Besorgtheit und Nervosität, die oft mit Angstattacken vor diversen Ereignissen und/oder Aktivitäten einhergeht. Die Ängste können sich auf bestimmte Themen konzentrieren (z.B. Trennungsängste), grundsätzlich betreffen sie aber die gesamte Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen.
Bei vielen Kindern und Jugendlichen geht die generalisierte Angststörung außerdem mit einer Reihe körperlicher Symptome einher:
- Ruhelosigkeit: Viele Betroffene können nachts schlecht schlafen und tagsüber nicht abschalten, weil das berühmt-berüchtigte Sorgen-Karussell sie nicht zur Ruhe kommen lässt.
- Reizbarkeit: Ein Leben mit generalisierter Angststörung bedeutet Dauerstress, weil schon alltägliche Situationen eine Fight-or-Flight- Reaktion auslösen können. Aufgrund des permanent hohen Stresslevels sind Betroffene in der Regel leicht reizbar.
- Konzentrationsprobleme: Der Dauerstress und die Ruhelosigkeit haben oft Konzentrationsschwierigkeiten zur Folge. Kinder und Jugendliche mit generalisierter Angststörung können dem Unterrichtsgeschehen oft nicht lange folgen und sind am Platz oft unruhig und/oder überdreht.
- Schmerzen: Bei vielen Kindern und Jugendlichen geht die Angststörung mit körperlichen Beschwerden wie Schwindelgefühlen, Bauchschmerzen, Kopf- oder Muskelschmerzen einher.
- Schwitzen: Viele Betroffene fangen in belastenden Situationen schnell und stark zu schwitzen an.
- Erschöpfung: Kinder und Jugendliche mit generalisierter Angststörung „switchen“ häufig zwischen Überdrehtheit und Erschöpfung, weil sie nie richtig zur Ruhe kommen.
Ursachen für Angststörungen bei Kindern
Angststörungen im Kindes- und Jugendalter sind kein neues Phänomen. Allerdings sehen wir spätestens seit Beginn der COVID-19-Pandemie einen besorgniserregenden Anstieg entsprechender Diagnosen. Doch nicht nur Schulschließungen und vorübergehende Isolation lösen pathologische Ängste aus: Auch emotional und psychisch stark belastende Situationen wie die Trennung der Eltern, eine schwere Erkrankung in der Familie, der Tod einer nahestehenden Person (zum Beispiel Großeltern oder Geschwister) oder durchlebte Traumata (zum Beispiel ein Wohnungsbrand) können starke Ängste hervorrufen.
Unter Expert*innen herrscht Konsens darüber, dass in Familien mit hohem Konfliktpotenzial ein besonders großes Risiko besteht:
Je weniger ein Kind „gesehen“ und je mehr es mit seinen Ängsten alleingelassen wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass es sie nicht überwinden kann.
Wann professionelle Hilfe wichtig ist.
Wenn du das Gefühl hast, dass dein Kind sich auffallend viele Sorgen und Gedanken macht, am Abend nur schwer in den Schlaf kommt und vielleicht sogar aktiv neue Situationen und/oder Aktivitäten meidet, kann es an der Zeit für einen Blick von außen sein. Angststörungen entstehen zwar nicht von heute auf morgen, aber viele Kinder und Jugendliche geraten in einen Teufelskreislauf, der die Entwicklung beschleunigt:
Die Ängste setzen dein Kind unter Dauerstress, der wiederum dafür sorgt, dass es nicht mehr zur Ruhe kommen und die Eindrücke bzw. Gedanken, die es ängstigen, verarbeiten kann. Die Ruhelosigkeit wiederum verstärkt den Stress, wodurch dein Kind noch intensiver auf Außenreize reagiert und laufend weitere Ängste entwickelt.
Damit es so weit gar nicht erst kommt, solltest du dein Kind und seine Ängste nicht nur ernst nehmen, sondern auch Hilfe anbieten. Und manchmal kannst du deinem Kind am besten helfen, indem du dich um Hilfe von außen bemühst.
Ängste behandeln in der Kinder- und Jugendberatung
Wenn du das Gefühl hast, dass die Ängste deiner Tochter oder deines Sohnes über das „normale“ Maß hinausgehen und sie oder ihn immer mehr einschränken, solltest du handeln. In der Kinder- und Jugendberatung geht es darum, den Ängsten das Schreckgesicht zu nehmen und die Kinder und Jugendlichen im Umgang mit herausfordernden Situationen zu stärken.
Aber bedenke bitte: Die psychosoziale Beratung kann deinem Kind helfen, solange die Ängste zwar stark, aber noch nicht pathologisch sind.
Sollte bei deinem Kind bereits eine Angststörung diagnostiziert worden sein, kann die psychosoziale Beratung unterstützend wirken, sie ersetzt jedoch nicht die therapeutische Behandlung. Ist dein Kind bereits bei einem*r Therapeut*in in Behandlung, solltest du die Möglichkeit einer zusätzlichen psychosozialen Beratung im Vorfeld besprechen.