NULL BOCK BLOG

Gehirn im Umbau: Was in der Pubertät im Kopf passiert

8. August 2023

„Und wie du wieder aussiehst, Löcher in der Hose, und ständig dieser Lärm …“ singen Die Ärzte in ihrem Song Junge aus dem Jahr 2007. Und auch heute noch geht vielen Eltern eine weitere Textzeile dieses Songs immer wieder durch den Kopf, während sie ihren Teenager dabei beobachten, wie er oder sie durch die Wohnung schlurft: „Und du warst so ein süßes Kind, und du warst so ein süßes Kind, du warst so süß“. Warum sich dein süßes Kind plötzlich zum pubertierenden Teenie verwandelt hat viel mit den Umbauarbeiten im Gehirn zu tun.

In diesem Artikel nehme ich euch mit auf eine abenteuerliche Tour durch das Teenager-Gehirn, um zu verstehen, was im Gehirn eurer Teenager eigentlich passiert. Vielleicht helfen ein paar Hintergrundinformationen dabei, das Rätsel rund um den eigenen Nachwuchs ein wenig zu entzaubern und somit mehr Verständnis für das für Eltern manchmal sonderbare Verhalten von Teenagern während der Pubertät entwickeln. Denn hinter all dem Chaos, das da plötzlich über Familien hereinbricht, steckt eine wundersame Entwicklung, die das menschliche Gehirn während der Pubertät durchläuft.

Was während der Pubertät im Gehirn passiert

Die Pubertät beginnt mit etwa 9 bis 11 Jahren, bei Mädchen etwas früher, bei Buben etwas später. Es ist die Zeit, in der Kinder zu jungen Erwachsenen heranwachsen und in der sich vieles verändert. Körperlich kommt es zu einem meist starken Wachstum und zur Ausreifung der Geschlechtsorgane, auch Stimme, Körperbau und Gesicht verändern sich. Aber auch im Gehirn passiert viel in dieser Lebensphase.

Nach außen hin wirken pubertierende Jugendliche, als wären sie nicht dazu fähig, Gedanken, Gefühle, Ideen und Pläne in ihrem Kopf zu ordnen. Die Laune reicht von himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt, manche Reaktionen sind für die Außenwelt unvorhersehbar. Die Jugendlichen wirken völlig teilnahmslos und schon im nächsten Moment plötzlich aggressiv und impulsiv. Für Eltern ist das schwer zu begreifen, eben noch wollte der Kleine nichts lieber als auf dem Sofa kuscheln, jetzt kommt er nur noch zur Nahrungsaufnahmen aus seinem muffigen Zimmer gelatscht und bringt maximal 2-Wort-Sätze über die Lippen. Und aus dem immer lachenden Mädchen ist eine mürrische, schlaksige Jugendliche geworden, die sich ausschließlich für Tic-Toc interessiert und mehr Zeit mit ihrem Glätteisen verbringt als mit Mama und Papa.

Diese plötzliche Umstellung vom Kind zum Teenager liegt daran, dass das Gehirn in dieser Zeit einer großen Baustelle gleicht, auf der Umstrukturierungen im großen Stil stattfinden. Entgegen bisherigen Annahmen, dass das Gehirn Jugendlicher zu dieser Zeit nur wenig leistungsfähig ist, haben neuere Untersuchungen ergeben, dass eher das Gegenteil der Fall ist.

Oft ist das jugendliche Gehirn während er Pubertät leistungsfähiger als das von Erwachsenen. Die Reaktionszeit ist im Vergleich zu anderen Altersgruppen die kürzeste, die Verarbeitungsgeschwindigkeit ist enorm hoch.

Und auch die räumliche Vorstellungskraft ist während der Pubertät auf ihrem Höhepunkt. Und das jugendliche Gehirn hat auch andere Fähigkeiten ziemlich beachtlich ausgebaut: die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses, Wahrnehmung, Flexibilität und Ideenreichtum sind bei Jugendlichen in Topform. Gerade Teenager können in kürzester Zeit sehr kreative Lösungswege für Probleme finden. Am anschaulichsten wird das, wenn wir uns Jugendliche im Umgang mit den neuen Medien ansehen. Blitzschnell erlernen sie Computerprogramme, gewinnen Strategiespiele und lassen sich von Chaos nicht stressen, sondern eher inspirieren.

Die Jugendlichen haben also eine blitzschnelle Auffassungsgabe, wenn sie Lust dazu haben. Deswegen ist es für Eltern besonders wichtig, die Heranwachsenden in ihrer Realität abzuholen, Interesse für sie zu zeigen, möglichst Ruhe zu bewahren und gleichzeitig klare Ansagen zu machen, die Orientierung und Halt geben. Kognitiv sind sie also zu Vielem in der Lage, und wenn sie den Raum dafür bekommen, der viel Platz für Würdigung und wenig für Wertung zulässt, dann haben sie auch Lust dazu. Leicht gesagt, ich weiß, aber die Pubertät ist nicht nur für Teenager, sondern auch für deren Umfeld eine Zeit des Lernens.

Pubertät – Wenn sich das Gehirn im Ausnahmezustand befindet

Manchmal zeigen sich durch die Umbauarbeiten im Teenager-Gehirn für die Außenwelt unerklärliche Gegensätze. Die Teenager erbringen kognitive Höchstleistungen und sind gleichzeitig völlig planlos. Sie wirken teilnahmslos und sind voller Ideen. Und sie fassen Neues in Windeseile auf und trotzdem legen sie nur wenig Konzentration an den Tag, wenn es um die Schule geht. Hier haben Wissenschaftler vor allem zu den folgenden drei Themen neue Entdeckungen gemacht:

Nervenzellen (Neuronen) sind bereits bei der Geburt in unserem Gehirn angelegt, im Kleinkindalter werden sie durch andauerndes Lernen mehr und mehr vernetzt und es entstehen andauernd neue Schaltkreise. Irgendwann jedoch erstickt das Gehirn fast an den vielen Details, warum Vorschulkinder sich schwer dabei tun, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und schon durch Kleinigkeiten abgelenkt werden können. Was nun bei Untersuchungen auf Magnetresonanztomographen-Bildern ersichtlich war, ist das Abnehmen der Gehirnsubstanzmasse in der Pubertät im Gegensatz zum Kindergehirn. Feine neuronale Verästelungen verkleinern sich in dieser Phase oder werden sogar ganz abgebaut. Ungefähr 50% der neuronalen Kontaktstellen werden währen der Pubertät sozusagen „ausgemistet“. Eltern werden jetzt sagen „Aha, deswegen benimmt sich mein pubertierendes Kind, als hätte es nichts mehr im Kopf!“ Aber das stimmt so nicht.

Während der Pubertät werden nur jene Verzweigungen im Gehirn stillgelegt, die vom Gehirn nicht mehr benutzt wurden, es erhöht sich also das Denkvermögen durch einen Abbau von Überflüssigem.

Außerdem werden die oft benutzen Bahnen durch eine gewisse Substanz isoliert, was zusätzlich zu einer enormen Zunahme an Denkfähigkeit führt. Darum denken Teenager also so viel schneller als vorher. Die Psychologin Terri Apter beschreibt die Reaktion eines 18-jährigen Jugendlichen auf diese Information über sein Teenager-Gehirn folgendermaßen: „Deswegen fühlt es sich also so an, als würde mein Hirn explodieren!“

Hormone im Teenager-Gehirn: Eine wilde Party im Kopf!

Und dann sind da noch die Hormone, bei deren Produktion das Gehirn eine bedeutende Rolle spielt. Stellt euch vor, eure Teenager werden von wilden Hormonen regelrecht überflutet, als hätten sie einen Zaubertrank getrunken, der ihre Körper und Gehirne in völliges Chaos versetzt. Der Hypothalamus fängt wie wild an, Hormone wie Östrogen und Testosteron, das Dream-Team der Pubertät, zu produzieren. Das Ergebnis? Körperliche Veränderungen, Stimmungsschwankungen und abenteuerliche Achterbahnfahrten der Gefühle. Kein Wunder, dass Teenager manchmal wie Außerirdische wirken! Östrogen und Testosteron beeinflussen also die emotionale Stabilität. Das limbische System, das für die Regulation von Emotionen zuständig ist, reagiert empfindlicher auf hormonelle Veränderungen. Studien haben gezeigt, dass Mädchen aufgrund des Anstiegs von Östrogen vermutlich anfälliger für depressive Verstimmungen sind, während Buben aufgrund des erhöhten Testosteronspiegels anscheinend ein höheres Risiko für aggressives Verhalten aufweisen.

Die Hormone lassen es aber nicht nur in den Köpfen eurer Teenager krachen, sie bringen auch eine ganze Palette an körperlichen Veränderungen mit sich. Brüste, Hüftkurven, Bartwuchs und Stimmbruch – bei der Hormon-Party ist alles erlaubt!

Teenager auf der Jagd nach dem Adrenalin-Kick

Oft fragen sich Erwachsene, warum Jugendliche während der Pubertät zu risikoreichem Verhalten neigen, sich Mutproben stellen und relativ leicht zu Drogen und Alkohol verführt werden. Sie wirken fast so, als wären sie auf der Jagd nach dem ultimativen Adrenalin-Kick! Dies liegt einerseits daran, dass das Areal, das für unsere Emotionen zuständig ist, erst in der dritten Lebensdekade endgültig fertiggestellt ist. Der präfrontale Kortex etwa, der für die Ausarbeitung komplexer Pläne zuständig ist und uns über die Konsequenzen unseres Handelns nachdenken lässt, ist erst mit ca. 20-25 Jahren komplett ausgereift. Und genau dieses Areal hilft auch dabei, andere Gehirnteile zu kontrollieren.

Stellt euch also vor, es findet das ultimatives Duell zwischen Emotionen und Vernunft statt – und ihr seid mittendrin! Die Amygdala, die kleine Drama-Queen im Gehirn, spielt verrückt und reagiert besonders empfindlich auf emotionale Reize. Gleichzeitig ist der präfrontale Kortex, der vernünftige Superheld, noch nicht vollständig ausgereift. Das Ergebnis? Ein ungleiches Kräftemessen, das zu verrückten Stimmungsschwankungen und scheinbar irrationalen Entscheidungen führt. Es ist wie eine Reality-Show im Gehirn! Gefühle können die Jugendlichen übermannen und werden noch nicht geordnet, der Verstand hat noch nicht die Kontrolle über ihre Emotionen übernommen. Zusätzlich sind aber jene Areale im Gehirn besonders aktiv, die Emotionen hervorrufen, wozu auch das sogenannte „Belohnungszentrum“ gehört. Wird uns etwas Freudiges, Lustvolles in Aussicht gestellt, dann schüttet unser Gehirn Dopamin aus, eine Substanz, die die Vorfreude besonders groß werden lässt und wie eine Droge wirkt.

Bei Jugendlichen ist der allgemeine Dopaminspiegel äußerst gering, doch winkt eine Belohnung für eine Handlung, dann wird das Gehirn regelrecht mit Dopamin überschwemmt. Und diese Belohnung ist im Teenageralter sehr oft die Anerkennung durch Gleichaltrige.

Um also genau diese Anerkennung zu erhalten, mutieren Teenager manchmal zu wagemutigen Draufgänger*innen, die das Leben auf der Überholspur erleben wollen. Studien zur Bildgebung des Gehirns zeigen, dass sich die mit Belohnung verbundenen Gehirnregionen im Allgemeinen schneller entwickeln als diejenigen, die mit Hemmung und Selbstkontrolle verbunden sind. Teenager machen viele Erfahrungen, die ihnen als Orientierungshilfe für ihre persönlichen Entscheidungen als Erwachsene helfen werden. Sie lernen in dieser Zeit also Entscheidungen zu treffen, die ihnen später nicht mehr von ihren Eltern abgenommen werden. Wenn sie sich beispielsweise in eine enttäuschende Liebesbeziehung begeben, dann kann ihnen dies in der Zukunft dabei helfen, herauszufinden, welche Art von Partner*in zu ihnen passt oder welche Art von Beziehung sie sich wünschen. Genauso ist es bei Freundschaftsbeziehungen, die im Teenageralter extrem eng sein und dann plötzliche enden können. Mitunter führt diese Art der selbständigen Entscheidungsfindung aber auch dazu, dass sich Teenager nicht mehr mit ihren Eltern identifizieren können, was sich in Abwehrverhalten gegen diese zeigen kann. Doch genau diese Zweifel an der gewohnten Umgebung, am bisherigen Umfeld, an den Werten und Normen der Eltern sind wichtig, damit die Kinder als Erwachsene selbstwirksam werden und ihre eigenen Entscheidungen treffen können.

Überraschenderweise für viele Eltern deuten die Daten darauf hin, dass Teenager heute nicht mehr so leicht von Sex, Drugs and Rock ’n‘ Roll verführt werden wie noch vor einigen Jahren.

Ihre für das Alter allgemein aufgeschlossenere Einstellung macht sich aber in anderen Bereichen ihres Lebens bemerkbar, wie zum Beispiel in der Faszination für neue Technologien. Die sture Verfolgung ihrer eigenen Interessen und die gleichermaßen sture Missachtung von Autoritäten kann sogar dazu beitragen, den technologischen, sozialen und politischen Wandel voranzutreiben.

Warum kommt mein Kind auf so absurde Ideen?

Besonders in der Pubertät kommen Jugendliche auf die absurdesten Ideen. So wirken diese Ideen jedenfalls auf Erwachsene. Doch man kann sie auch als besonders kreativ bezeichnen. Kreativität bedeutet, etwas Besonderes, Außergewöhnliches zu schaffen, also Ungedachtes zu denken. Hierzu muss das Gehirn assoziativ, frei und emotional arbeiten, der Intellekt wird bei diesen Denkvorgängen möglichst ausgeschaltet. Und dies passiert gerade während der Umbauarbeiten im Teenager-Gehirn, was die Jugendlichen für Erwachsene so unberechenbar macht. Es wird also ein komplettes Renovierungsprojekt im Gehirn der Jugendlichen durchgeführt, nur ist der Bauplan noch nicht wirklich ausgereift.

In kaum einer anderen Phase des Lebens sind Menschen so kreativ wie in der Pubertät, sie probieren aus, sie schreiben Gedichte, gründen Bands, rasen mit dem Skateboard über Treppen oder designen ihren eigenen Kleidungsstil.

Die Kontrollinstanz, der präfrontale Kortex, mischt sich im Teenageralter viel weniger in Pläne und Entscheidungen ein als später im Erwachsenenalter, wo er voll ausgereift ist. Die Jugend ist also eine Generation von Entdeckerinnen und Erfindern voller Kreativität und Abenteuerlust.

Hilfreiche Überlebensstrategien für Eltern

All diese Erkenntnisse lassen einen vorher nicht da gewesenen, positiven Blick auf die Adoleszenz zu, einen ideenreichen und fantasievollen Blick. Teenager treffen nicht nur manchmal Fehlentscheidungen, sie sind auch zu wirklichen Glanzleitungen imstande. Im Vergleich zu vielen Erwachsenen sind sie originell, idealistisch, voller Schöpfungsdrang und gehen oft vollkommen unvoreingenommen an neue Herausforderungen heran.

In dieser Zeit ist es also ratsam, die Jugendlichen ihre eigenen Erfahrungen machen zu lassen. Eure eigenen Erfahrungen können ihnen jedoch sehr wohl dabei helfen, schwierige Entscheidungen zu treffen. Dabei müssen Eltern aber auch Konfliktsituationen aushalten. Nur, weil das Teenager-Gehirn sich in der Pubertät im Umbau befindet, bedeutet das nicht, dass es mit Absperrband versehen und somit nicht zugänglich ist. Auch eure Kinder müssen Verantwortung übernehmen, aber ihr könnt ihnen mit eurem reichen Erfahrungsschatz beistehen und Entscheidungen gemeinsam diskutieren und prüfen.

Das Gehirn eurer Teenager macht eine wilde Reise durch. Dabei ist es besonders wichtig, euren Humor zu behalten. Vielleicht habt ihr ja sogar mal Lust, auf den einen oder anderen Blödsinn mit einzusteigen, denn auch uns Erwachsenen kann es hin und wieder ziemlich guttun, mal zu lauter Musik durch die Wohnung zu tanzen – ob mit oder ohne Kinder. Zeigt Geduld und liebevolle Unterstützung, um ihnen dabei zu helfen, diese außergewöhnliche Zeit zu meistern. Ja, manchmal werden eure Teenager wie Außerirdische erscheinen, aber sie durchleben eine aufregende Phase des Wachstums und der Entdeckung. Gebt ihnen Liebe, Verständnis und ein bisschen Platz zum Ausflippen. Und vergesst dabei nicht, euch zwischendurch selbst mit einem Lachen zu verwöhnen. Gemeinsam könnt ihr diese verrückte Reise zu einem unvergesslichen Abenteuer machen!

Dieser Artikel stützt sich auf Informationen aus dem Geo Wissen Heft 65/2019 sowie dem Buch Abenteuer Pubertät: Was sich die Natur dabei gedacht hat von Bernhard Stier, in denen Interessierte noch viele weitere Informationen zum Thema Pubertät finden können.