Respektlosigkeit in der Pubertät: Das Konzept „Neue Autorität“
Als Elternteil hast du bestimmt schon oft das Gefühl gehabt, dass du nicht mehr weiterweißt. Dein Kind ist ständig wütend, schreit dich an, vielleicht wird es sogar handgreiflich. Aggressionen und Respektlosigkeit kommen bei Kindern und später auch in der Pubertät leider oft vor. Das kann einem auf Dauer ganz schön an die Substanz gehen. Warum verhält sich deine Tochter oder dein Sohn während der Pubertät plötzlich so respektlos? Was genau löst dieses respektlose, oft aggressive Verhalten deines Kindes in dir aus und wie kannst du damit umgehen? Genau darum soll es in diesem Artikel gehen.
Ein spannender pädagogischer Ansatz ist die Neue Autorität, die der Psychologe Haim Omer entwickelt hat. Er beschreibt eine Art von Autorität, die nicht auf Kontrolle, Gehorsam und Strafen aufbaut, sondern auf Präsenz, Geduld und Selbstbeherrschung. Und ich kann dir sagen: Das kann wahre Wunder wirken. Wenn du mehr über Aggressionen speziell gegen Mütter wissen willst, dann lies gerne meinen Blogartikel zum Thema.
Respektlose Teenager – Was mache ich falsch?
Da sitzt du nun und fragst dich: Was mache ich bloß falsch? Diese Schuldgefühle sind schwer zu ertragen, und es ist leicht, in den Strudel der Selbstvorwürfe zu geraten. Was will mein Kind von mir? Höre oder sehe ich irgendetwas nicht? Was habe ich getan, dass sich mein Teenager so respektlos verhält?
Was wäre, wenn wir mal anders denken? Nicht nur „Was braucht mein Kind?“, sondern auch: „Was brauche ich als Mutter oder Vater?“.
Oft erlebe ich in meiner Praxis Eltern, die ratlos sind. Wenn ihr Kind sich schlecht verhält, gehen sie automatisch davon aus, dass sie als Eltern irgendetwas falsch gemacht haben. Das liegt an der Idee, die Familie als Kreis zu sehen, in dessen Zentrum das Kind steht. Wenn das Kind problematisch ist und sich respektlos verhält, dann muss es an den Eltern liegen, oder? Falsch! Diese Vorstellung schwächt die Eltern, macht sie klein und raubt ihnen die Kraft, die sie brauchen, um für ihr Kind da zu sein. Oft wird immer noch die Mutter für die Erziehung verantwortlich gemacht, sie hat also Schuld an der Respektlosigkeit ihres Teenagers. Hier heißt es ganz klar: Schluss mit den Schuldzuweisungen! Haim Omer ist der Ansicht, dass Elternbedürfnisse genauso wichtig sind wie die des Kindes.
Wenn es uns schlecht geht, können wir unseren Kindern auch nicht das geben, was sie brauchen. Wenn du das Gefühl hast, dass dein Teenager in dir in der Pubertät nur noch mit Respektlosigkeit begegnet oder dir alles über den Kopf wächst, dann lege ich dir die Elternberatung ans Herz, um wieder stark für dein Kind zu sein.
Omer sieht die Familie als eine Ellipse mit zwei Punkten darin, Kinder und Eltern. Und beide haben ihre Bedürfnisse, die erfüllt werden sollen.
Der alte Erziehungsstil: Kontrolle und Hierarchie
Früher war Autorität ein völlig anderes Spiel. Doch sollten wir uns immer vor Augen halten, dass nicht alles, was schlaue Leute in der Vergangenheit über Erziehung gesagt und gedacht haben, falsch ist. Haim Omer sucht keinen absolut neuen Ansatz, sondern will die alte autoritäre Pädagogik und die antiautoritäre Erziehung der 60er und 70er Jahre zusammenfließen lassen zu einem neuen Erziehungsstil. Um aus der Vergangenheit zu lernen, sehen wir uns also die verschiedenen Arten der Erziehung mal genauer an.
In der autoritären Erziehung gab es vier Grundprinzipien, die damals als selbstverständlich galten, heute aber absolut nicht mehr in unsere Zeit passen.
Distanz
Die Eltern standen oben, das Kind unten. Nähe? Fehlanzeige. Heute wissen wir, dass Kinder Nähe brauchen, aber manchmal eben auch ein bisschen Distanz, um sich zu entwickeln. Gerade in der Pubertät ist das besonders wichtig, denn Respektlosigkeit den Eltern gegenüber kann aus einem Mangel an Nähe resultieren. Es gilt also, die richtige Balance für genau euer Kind, eure Familie zu finden.
Kontrolle
Die Eltern bestimmten, was das Kind tut, denkt und fühlt. Absoluter Gehorsam war das Ziel der Erziehung. Wenn das nicht funktioniert hat, wenn Kinder oder Jugendliche keinen Respekt vor ihren Eltern zeigten, kam Gewalt ins Spiel. Heute verstehen wir, dass Kontrolle nicht das Ziel ist, und preisen die Autonomie als hohen pädagogischen Wert. Forschungen an deutschen Eltern aus allen ökonomischen Schichten haben ergeben, dass den Eltern besonders wichtig ist, ihre Kinder selbständig zu erziehen. Kontrolle ist also nicht mehr die Lösung, sondern ist zum Problem geworden.
Hierarchie
Früher stand die Autoritätsperson unangreifbar an der Spitze der Familie. Gehorsam war oberstes Gebot, und niemand sollte seine Nase in die Erziehung anderer stecken. Heute sehen wir, was in Familien passieren kann, für die sich niemand interessiert, und setzen auf die Möglichkeit der Transparenz. Wir fordern das Recht, in Familien hineinzusehen, besonders dann, wenn es Probleme gibt.
Unmittelbare Reaktionen
Die meisten Eltern von heute sind noch nach diesem Prinzip aufgewachsen: Macht das Kind etwas falsch, wird es respektlos oder gar aggressiv, muss es sofort betraft werden. Heute wissen wir, dass Bestrafung im Affekt meist zu noch mehr Eskalation führt. Wir brauchen Raum, um über Dinge nachzudenken, bevor wir handeln.
Wenn Eltern ihre Kinder sofort bestrafen, dann befinden sie sich selbst noch auf der Höhe ihrer Emotionalität und können ihre Schritte in diesem Zustand nicht überdenken.
Diese Art der alten Autorität war in den 50er Jahren noch unbestritten, Familien, Lehrpersonal und Medien dachten, dass Kontrolle, Gehorsam und Strafe die richtigen Erziehungsmethoden wären, um respektloses Verhalten während der Pubertät einzudämmen. Doch inzwischen hat sich nicht nur unser pädagogisches Selbstverständnis verändert, auch Gesetze wurden angepasst.
Antiautoritäre Erziehung und ihre Fehler
Während der 60er und 70er Jahre kam es zu einem Umschwung in der Erziehung. Autorität war nicht mehr die Lösung, sondern das Problem. Das Ideal der Erziehung basierte auf 4 Fundamenten: Liebe, Verständnis, Ermunterung und Freiheit.
Damals glaubte man fest daran, dass jedes Kind mit einem inneren Kern geboren wird – einem Samen des Selbst. Die Idee war, dass dieser Same nur dann richtig aufblühen kann, wenn das Kind ganz frei und ohne Einschränkungen aufwächst. Grenzen und Regeln? Die galten als Hindernisse, die das Kind in seiner Entfaltung behindern würden. Auf Respektlosigkeit in der Pubertät wurde mit Nachsicht reagiert. Der Traum dahinter: Eine ganze Generation von Menschen, die ohne Strafe oder Unterdrückung großgeworden sind, wird zu einer freien und liebevollen Gesellschaft führen. Doch dieser Traum der damaligen Pädagogik endete in einer großen Enttäuschung. Nicht alle Kinder, die in dieser Freiheit aufwuchsen, wurden zu den positiven und verständnisvollen Menschen, die man sich erhofft hatte.
Die Forschungen der Entwicklungspsychologin Diana Baumrind und etliche ander Studien zeigten: Kinder, die in einem Umfeld ohne klare Grenzen erzogen wurden, hatten es oft schwerer.
Diese Kinder waren impulsiver, hatten eine niedrigere Toleranzgrenze für emotionale Ausbrüche und zeigten häufiger aggressives und respektloses Verhalten als Kinder und Jugendliche, die in traditionellen Familien aufwuchsen, wo es klare Regeln gab. Auch Risikoverhalten wie Lügen, Alkoholmissbrauch und frühe sexuelle Erfahrungen kamen bei ihnen häufiger vor. Die größte Überraschung aber: Diese Kinder hatten oft ein geringeres Selbstwertgefühl als jene Kinder aus Familien mit klaren Grenzen. Warum? Weil sie nie gelernt hatten, mit Herausforderungen umzugehen und daran zu wachsen.
Um den Glauben zu entwickeln, dass wir etwas taugen, brauchen wir auch die Erfahrung, dass wir fähig sind, mit Schwierigkeiten zurechtzukommen, sie zu überwinden.
Also ist auch die absolut freie Erziehung problematisch. Die Erfahrung, auch mal keine Wahl zu haben, ist offensichtlich nötig, damit Kinder das Gefühl des Schaffens verspüren und dadurch ein positives Selbstwertgefühl entwickeln können. „Es war schwierig, aber ich habe es geschafft!“.
Wir sehen also, dass sowohl die alte autoritäre Erziehung als auch die antiautoritäre Erziehung ohne Grenzen ihre Schwachstellen haben. Daher führt Haim Omer den Begriff der Neuen Autorität ein.
Respektlosigkeit in der Pubertät – Tipps für Zuhause
Die Neue Autorität nach Haim Omer ist eine Form von Stärke, die ganz ohne Macht auskommt. Klingt erstmal widersprüchlich, oder? Aber Omer zeigt, dass Autorität nichts mit Hierarchien und Strafen zu tun haben muss, und dass man Respektlosigkeit und Aggression von Kindern in der Pubertät auch mit Nähe und Präsenz begegnen kann. Früher war Autorität geprägt von Distanz und Kontrolle. Eltern mussten bestimmen, was das Kind tut, denkt und fühlt. Heute wissen wir: Gehorsam ist nicht das Ziel. Autonomie, Selbstständigkeit und Verantwortung – das sind die Werte, die wir unseren Kindern heute vermitteln wollen.
Aber wie kommen wir weg von der autoritären Erziehung, ohne ins totale Chaos zu stürzen? Wie schaffen wir es, eine positive Autorität aufzubauen, die auf Nähe statt auf Distanz setzt? Und das gerade in Momenten, wenn deine mitten in der Pubertät steckende Tochter gerade total respektlos mit dir spricht oder dein Sohn dir die Türe vor der Nase zuknallt? Omer gibt uns hier ein paar ganz konkrete Ansätze.
Präsenz statt Kontrolle
Der Schlüssel zu Omers neuer Autorität liegt in der Präsenz. Präsenz bedeutet, dass du als Mutter oder Vater einfach da bist. Und zwar nicht nur, wenn alles gut läuft, sondern auch, wenn es schwierig wird, wenn dein Kind sich respektlos verhält oder gar aggressiv wird.
Präsenz heißt, du bleibst ruhig und zeigst deinem Kind: „Ich bin da – auch wenn du wütend bist, auch wenn du mich gerade am liebsten wegschieben würdest. Ich gehe nicht weg.“
Das klingt erstmal einfach, oder? Einfach da sein. Aber wie oft handeln wir im Affekt, wenn der Sohn oder die Tochter wütend und laut wird? Da wird schnell geschimpft, gestraft oder man zieht sich zurück, weil man es nicht mehr aushält. Omer sagt dazu: Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist! Das bedeutet, wir sollten Konflikte in der Familie nicht im Hitzkopf-Modus klären. Nimm dir die Zeit, die du brauchst, um dich zu beruhigen, und sprich dann in Ruhe mit deinem Kind.
Tipp: Bleibe ruhig und nimm dir Zeit. Ein Gespräch am Abend über den Tagesverlauf kann manchmal wahre Wunder wirken. Und frage auch dein Kind, wann es bereit ist, über das Geschehene zu sprechen.
Wachsame Sorge: Immer den Finger am Puls
Ein weiterer wichtiger Punkt in Omers Ansatz ist die wachsame Sorge. Das bedeutet, dass du als Elternteil weißt, was bei deinem Kind los ist. Wenn alles in Ordnung ist, lässt du es frei experimentieren. Aber wenn du merkst, dass etwas nicht stimmt, dann bist du da und behältst die Situation im Auge. Es geht nicht um Kontrolle, sondern um Aufmerksamkeit, Interesse und Präsenz. Dabei ist aber auch dein innerer Zustand wichtig, denn aufmerksam und interessiert kannst du nur sein, wenn es dir gut geht.
Tipp: Frage dein Kind also nicht aus, sondern nimm Anteil an seinem Leben, offen und interessiert. Und lass vielleicht auch mal dein Kind den Zeitpunkt wählen, wann es dir etwas erzählen möchte.
Oft resultiert die Respektlosigkeit von Söhnen und Töchtern in der Pubertät auch daraus, dass Eltern sich ihnen gegenüber ganz unbewusst respektlos verhalten.
Tipp: Verbringe bewusst Zeit mit deinem Kind, in der du ohne Ablenkungen ganz präsent bist. Vielleicht beim gemeinsamen Kochen oder während eines Spaziergangs. Dabei kannst du offene Fragen stellen wie: „Wie geht´s dir heute?“ So zeigst du, dass du aufmerksam bist.
Struktur statt Chaos
Wir alle brauchen einen Rahmen an Regeln, innerhalb dessen wir agieren können. Zu Hause, in der Arbeit, in der Freizeit. Und genauso brauchen auch Kinder und Jugendliche eine Struktur, die ihnen Halt gibt. Eine Art Geländer, an dem sie sich anhalten können, wenn stürmische Zeiten auf sie zukommen. Chaos kreiert auch hilflose Eltern, die nicht mehr wissen, wie sie ihre eigenen Bedürfnisse oder die ihrer Kinder befriedigen können. Daraus kann dann in der Pubertät der Kinder Respektlosigkeit gegenüber ihren Eltern resultieren. Für mich ist Erziehung ein flexibler Rahmen, der mal enger, mal weiter gefasst werden kann. Und der klare Regeln vorgibt, an die sich alle in der Familie halten sollen. Dies stabilisiert die Kinder, da die Eltern durch die Struktur einen sicheren Anker darstellen. Die Regeln können natürlich immer wieder angepasst werden.
Tipp: Setze auf klare, konsistente Grenzen. Diese geben deinem Kind Orientierung. Wenn es sieht, dass du diese Grenzen ruhig und konsequent einhältst, ohne laut zu werden, wird es lernen, diese zu respektieren. Zum Beispiel könntest du klar machen: „Ich akzeptiere nicht, dass du mich anschreist, und wir reden weiter, wenn du dich beruhigt hast.“
Selbstkontrolle statt Gehorsam
Was wir als Eltern oft vergessen: Wir können unser Kind nicht kontrollieren. Wir können nicht bestimmen, was es denkt oder fühlt. Aber wir können uns selbst kontrollieren. Unsere eigene Selbstbeherrschung ist die größte Quelle von Autorität. Wenn du deinem Kind zeigst, dass du dich im Griff hast, egal wie wütend es wird, dann wirst du merken, dass dein Kind eher bereit ist zu kooperieren. Es geht nicht darum, dass dein Kind macht, was du sagst, sondern darum, dass DU tust, was DU sagst. Dies wird helfen, schwierige Situationen zu deeskalieren.
Tipp: Arbeite bewusst an deiner eigenen Gelassenheit. Atemübungen oder kurze Pausen können helfen, ruhig zu bleiben, selbst in schwierigen Momenten. Dein Kind wird merken, dass du in der Lage bist, gelassen zu reagieren, und wird sich daran orientieren.
Unterstützung
Du musst nicht alles allein schaffen. Hol dir früh genug Unterstützung von anderen, damit du deinem Kind ein guter Anker sein kannst. Denn nur in der Verbindung, in der Resonanz mit anderen wirst du stabiler und sicherer in deiner Erziehung. Diese Unterstützung kannst du in der Familie finden, aber auch bei Nachbar*innen, in der Schule oder bei guten Freunden und Freundinnen.
Ein gutes Netzwerk wird dir Halt geben und eröffnet auch deinem Kind mehr Möglichkeiten, sich auch mit anderen Personen auszutauschen.
Oft merken Eltern dann, dass ihre Kinder während der Pubertät anderen gegenüber oft gar nicht respektlos oder aggressiv reagieren, auch wenn der Inhalt des Gesagten der gleiche ist. Mach dir bewusst, dass dein Kind vielleicht dir gegenüber respektlos reagiert, weil es sich während der Pubertät ausprobiert. Zu Hause fühlt es sich sicher und hat das Gefühl, in diesem Rahmen verschiedene Verhaltensweisen testen zu können. Und ja, das kann auch mal weh tun.
Kritik an der Neuen Autorität
Die Neue Autorität ist ein Ansatz, der von einigen Pädagogen, Psychologinnen und Sozialwissenschaftlerinnen durchaus auch kritisch betrachtet wird. Allein, dass der Begriff Autorität wieder in die Erziehung zurückkehrt, wird fragwürdig betrachtet. Der Sozialwissenschaftler Tilman Lutz kritisiert zum Beispiel in einem Artikel in der TAZ, dass den Kindern und Jugendlichen bei diesem Konzept keine Mitgestaltung am Erziehungsprozess zugesprochen wird. Oder dass die Eltern entscheiden, wann und wie ein Konflikt wieder aufgegriffen wird. Er bemängelt außerdem die Hierarchie zwischen Eltern und Kindern, die die Neue Autorität mit sich bringt. Also, dass die Eltern entscheiden, was positive und negatives Verhalten ist.
Nehmt euch also die Anregungen heraus, die für euch und eure Familie passen. Wenn ihr euch eure eigene Meinung zum Thema bilden wollt oder mehr zum Thema Neue Autorität wissen wollt, dann könnt ihr euch hier schlau machen: Video zum Vortrag von Haim Omer. Haim Omer und der Grazer Psychologe Philip Streit erklären den Ansatz auch in ihrem Buch Neue Autorität – Das Geheimnis starker Eltern.